Olympische Spiele der Neuzeit

 

London 1908

Zufällig oder schicksalsbestimmt fallen oft Entscheidungen, deren Tragweite über Jahrzehnte hinwegreicht. Italien hatte sichdie Durchführung der V. Olympische Spiele für seine Hauptstadt Rom gesichert, als plötzlich im Jahre 1907 eine Verzichtserklärung erfolgte. Nur eine einzige Nation schien in der Lage, in der knappen Zeit eines Jahres so umfassende Vorbereitungen zu ermöglichen, wie sie erforderlich waren: England. 12 Jahre waren seit der Wiedererweckung der Spiele verstrichen. Nun trat endlich das Volk hervor, dessen Sportwesen als Vorbild die Staaten Europas befruchtet hatte. Das Signal zur Arbeit traf eine gerüstete Regierung. Organisatorisches Talent sowie britische Zähigkeit reichten sich die Hände und schufen ein Werk, dessen gewaltiger Fortschritt den Gedanken der Olympischen Spiele in steilen Zügen aufwärts trieb.

Zu S h e p h e r d s B u s h im Westen Londons entstand aus Schutt- und Trümmerfeldern ein mächtiges Stadion, das mit seinen 100.000 Plätzen den Kämpfen einen würdigen Hintergrund verlieh. Der hohe Stand der englischen Sportkultur entfaltete sich in einer Fülle und Reichhaltigkeit des Programms, das den festen Rahmen olympischer Hochziele zu sprengen drohte. Hockey, Polo und Segeln bereicherten als neue Sportarten wirklich die Spiele, während die zahlreichen Gliederungen die großen Linien beeinträchtigten.

Übermächtig an Zahl war der Einsatz des englischen Sports. Von den 2035 Teilnehmern trugen 513 die englischen Farben und in der Zahl der Siege marschierte England mit 56 weit an die Spitze. Freilich gab es manchen Wettbewerb, den die "Söhne Albions" alleine austrugen. Amerika stand mit 23 Erfolgen an 2. Stelle.

Das Gerechtigkeitsempfinden des Sports hat von jeher die Leistungen am Höchsten gewertet, die mit Uhr, Bandmaß und Waage die unbestechlichen Spiegelbilder menschlicher Kraft und Spannung gewesen sind. Leichtathletik, Schwimmen und Gewichtheben sind die Übungen, die unabhängig von menschlicher Wertung und den Zufälligkeiten des Ortes die absolute Darstellung des Leistungswertes garantieren. So war doch wohl Amerika der erste Sieger, denn es gewann von 27 Leichtathletik-Wettkämpfen deren 15.

Die Engländer der Jahrhundertwende waren bereits Sportsleute. In den Zuschauermassen von London lebte mehr als ein kindhaftes Staunen über die farbige Bilderfolge. Der unsichtbare Widerschein sportlicher Großtaten löste in ihren Seelen Schwingungen aus, die das Blut der Erregung in den Hals jagten und zum heißen Kampffieber der Begeisterung steigerten. Die kühle Maske der Menschen zerbrach unter der packenden Wirkung der Kampfszenen und verborgene Volksinstinkte wurden aufgewühlt zu fassungsloser Hingabe. Augenblicke tiefster Ergriffenheit wechselten mit den Schauern vor dem Erhabenen.

Leise klingt die Melodie dieser Tage auf, wenn R.C. E w r y im Hochsprung aus dem Stand mit einer Höhe von 1,56m seinen 10. Olympiasieg erreicht. In der sommerlichen Stille des Julitages zirpte eine Grille ihre schlichte Musik als Begleitung. Stärker tönt es über die Jahrzehnte aus dem 800m-Lauf. M a r t i n W. S h e p p a r d, ein Amerikaner großen Schlages, schöpft die hinreißende Gestaltung läuferischer Schönheit in kristallener Klarheit. An seiner Seite kämpfen der dunkle Italiener L u n g h i und Deutschlands erster Könner H a n s B r a u n in vergeblichem Trotzen. Als die drei Athleten im Entscheidungslauf über die Bahn dahinfliegen, heben sich die Herzen, die Augen weiten sich an der Größe des Bildes und tief senkt sich das Wunder in die schützende Seele. Unerhört ist der neue Weltrekord von 1:52,2min, weil er so weit die gewöhnliche Vorstellungskraft übertraf. Aber es mag noch ein anderes sein, das diesen Sieg so über die Maßen in das Gedächtnis meißelte. Mit der rauschenden Gewalt eines Wildbaches war es über die Menschen gestürzt und hatte sie mit harter Faust an die Grenzen des Ertragbaren geschleudert. Das Marathontor hatte sich zum Empfang der Läufer aufgetan. Stieren Blickes, mit wankenden Knien betrat der Italiener D o r a n d o den Raum. Über das Stadion legte sich die Stille einer Totenstadt. Erschöpft zwang der Kämpfer die Beine vorwärts, da versagten die Muskeln, der Körper sank zusammen. Dann zuckte der Wille auf, im Taumel glückten einige neue Schritte und abermals brach der Leib. Geisterhaft kroch das Leben langsam wieder in die erstarrten Züge. Nah den Blicken stand das Ziel. Mehr Entsetzen als Bewunderung erfüllte die Sekunden auf ihrem schleichenden Weg. Überwältigt von so viel Qual halfen ihm zwei Kampfrichter stützend über die Linie. Der Dienst der Menschlichkeit aber verletzte die ehernen Gesetze des Sports. Dorando wurde später disqualifiziert und lebt vielleicht doch länger in dem Sinnen der Menschen als mancher glückstrahlender Sieger. Der Vorhang der Geschichte fällt über einen großartigen und tragischen Akt olympischen Geschehehns.

An den Olympischen Spielen 1908 in London nahmen 2035 Athleten aus 22 Ländern, darunter 36 Damen, teil. Es wurden 109 Wettbewerbe in 24 Sportarten ausgetragen. Die offizielle Eröffnung der Spiele wurde von König Edward VII. von England durchgeführt.

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